Rezensionen - Diesen Kuss der ganzen Welt

witte 2Dr. phil. Dr. h.c. Barthold C. Witte , Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts (1983-1992), Initiator und Vorsitzender der "Bürger für Beethoven" (1993-2006), Bonn 2008 flagge deutschland 30x50

„Lebensverändernder Erkenntnisgewinn ... durch interdisziplinären Forschungsansatz in
publizistisch attraktiver Form: Neue, faszinierende Deutung von Beethovens Leben und Werk

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Rezension: ändernder Erkenntnisgewinn durch interdisziplinären Forschungsansatz in publizistisch attraktiver Form: "Neue, faszinierende Deutung von Beethovens Leben und Werk"

…Was bleibt im Gedächtnis, vielleicht gar im Herzen nach der Lektüre dieses schönen Buches? Ich selbst habe die von Erika Schuchardt entwickelten Thesen über die Krise und ihre Überwindung am Beispiel Beethovens zuerst gehört, als sie diese der Jahresversammlung 2006 der Bonner "Bürger für Beethoven", Gesellschaft der Freunde und Förderer des Beethovenfestes, auf meine Einladung vortrug. Zwar kannte ich zuvor schon das Schuchardt'sche Modell der Lebensspirale, das mit der Ungewissheit und der ihr folgenden Gewissheit der Krise beginnt und über Aggression wie Depression zur Annahme des Schicksals, damit zu neuer Aktivität und Solidarität, ja zu bisher unerreichter Schöpfungskraft führt. Doch faszinierte mich und mit mir viele Hörer, wie und in welchem hohen Maß die Autorin anhand dieses Modells den Lebensweg Beethovens und seine Spiegelung in unsterblichen Werken der Musik zu deuten vermag.

Das ist, so hoffe ich, ebenso der erste Gewinn, den der Leser oder die Leserin dieses Buchs davonträgt: eine neue, faszinierende Deutung von Beethovens Leben und Werk in dem unlöslichen Zusammenhang, der beides, die Person und ihre Musik, verbindet.

Beethovens Symphonien, zumal die Dritte und die Neunte, erscheinen in ungewohntem Licht, die eine als Station auf dem Wege, die andere als Vollendung. Es wird eine reizvolle Aufgabe für künftige Autoren sein, ein Gleiches an den Klaviersonaten, der Kammermusik und nicht zuletzt an Beethovens Oper "Fidelio" zu zeigen. Ich bin sicher, das kann gelingen, eben weil die von Erika Schuchardt geschaffene wissenschaftliche Grundlage solcher Verknüpfung von Leben und Werk, der "Lebens-Spiralweg Krisenverarbeitung", als eine empirisch aus über zweitausend Biographien gewonnene, dazu östlicher Weisheit verbundene Deutung so überzeugend ist.

Dies ist der zweite Gewinn, also die Erkenntnis, dass Lebenskrisen, auch und gerade solche schwerster Art, eben nicht, wie viele meinen, in Hoffnungslosigkeit, gar in den Tod führen müssen, sondern in tätige Bejahung des Lebens führen können.

Wem diese Heimsuchung erspart blieb, mag sich glücklich preisen. Doch könnte es sein, dass herausragende Leistungen überhaupt erst aus persönlicher Krise erwachsen. Man versuche einmal, Goethes Leben und Werke unter diesem Gesichtspunkt zu interpretieren. Ich bin sicher, dass Erika Schuchardts Deutungsmodell auch für den größten Dichter deutscher Zunge gilt.

Aber nicht nur für Beethoven oder Goethe, sondern für jedermann und jedefrau. Das ist die dritte, vielleicht wichtigste Einsicht.

Manche Leser werden zunächst wohl, einigermaßen von der Größe Beethovens erschlagen, die aus seinem Schicksal zu gewinnende Erkenntnis gar nicht auf sich selbst oder ihr persönliches Umfeld beziehen wollen. Wer wird sich schon Beethoven oder, was die Literatur angeht, dem Goethe'schen Faust vergleichen wollen? Indessen geht es nicht darum, dem Genie nachzueifern, sondern das eigene Leben und das der jeweils Nächsten daraufhin zu prüfen, ob der "Spiralweg Krisenverarbeitung" nicht auch für uns Nicht-Genies gilt. Ich habe es versucht - und siehe da, auch im eigenen Leben gab, und gibt es vielleicht auch künftig, Scheitern und seine Überwindung durch neue Schöpferkraft, die erst aus der Krise erwächst.

Der Dank für solchen, womöglich lebensverändernden Erkenntnisgewinn gilt Erika Schuchardt. Dies umso mehr, als ihr Beethoven-Buch ein überzeugendes Beispiel dafür ist, was die Wissenschaft, eigentliche Triebkraft unserer Epoche, leisten kann, wenn sie der ihr innewohnenden Tendenz zur immer engeren Spezialisierung für einmal widersteht und stattdessen interdisziplinär arbeitet. Wer das tut, macht sich bei den Spezialisten zumeist nicht beliebt. Sei's drum: Das Buch spricht für sich. Möge es viele aufmerksame und nachdenkliche Leser finden.

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Dr. phil. Dr. h.c. Barthold C. Witte
Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts (1983-1992),
Initiator und Vorsitzender der "Bürger für Beethoven" (1993-2006)

Bonn, September 2008