"...Anwältin der Betroffenen..."
Von Hans A. Pflästerer
Der Klappentext gönnt sich keinen Umweg, fragt ohne Umschweife zur Sache: "Wer begleitet Behinderte, leidet mit Menschen in Krisen? Behinderte leben dank neuer Formen der Rehabilitation in großer Zahl unter uns. Aber sind sie integriert? Aus Angst vor eigenem Unglück meiden wir ihre Nähe. Ihrer Frage ,Warum gerade ich?' weichen wir aus."
Weichen wir aus? Zumindest gibt es Ausnahmen, sei es auch nur, dass sie die Regel bestätigen. Erika Schuchardt zum Beispiel. Die Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Hannover hat aus der Analyse von 260 Lebensgeschichten pädagogische Schritte zur Krisenverarbeitung entwickelt und die Betroffenen anzuleiten versucht. Es ist kein Krisenmanagement, wohl aber ein Aufbegehren gegen den „Tod der Beziehungslosigkeit", Anstiftung zum Mitgehen auf dem schmerzlichen Weg des Lernens, des Miterlebens, des Mitleidens, des Mitgestaltens. Erika Schuchardt, Pädagogin aus Leidenschaft, Selbstauskunft: "Ich bin jemand, der das, was er tut, ganz tut" , hat diese Geschichten zu Buche geschlagen: "Warum gerade ich? Behinderung und Glaube".
Weichen wir aus? Es wäre unbillig, wollte man die Entscheidung des Deutschen Verbandes Evangelischer Büchereien als ein solches Manöver fehlinterpretierten. Der hat der gebürtigen Hamburgerin, Jahrgang 1940, mit dem Studium der Sozialwissenschaften, Sonderpädagogik und Erwachsenenbildung mit der Promotion zum Dr. phil. habil. nämlich seinen mit 3000 Mark dotierten Buchpreis 1984 zuerkannt, immerhin in der Tradition eines Rudolf Otto Wiemer, eines Kurt Marti und einer Ingeborg Drewitz. Der Literarische Beirat des Verbandes hob bei der Begründung seiner Wahl die literarische Qualität, die gute Lesbarkeit und Einsatzmöglichkeit sowie die "christlich interpretierbare Aussage" des Buches hervor. Der Preis, diesmal für Sachbücher ausgeschrieben, wird am 6. Juni in Bethel verliehen.
Bis dahin wird nicht nur dieser derzeit vergriffene Band, den der Theologe Jürgen Moltmann "ein Buch voller Erfahrung und Einsicht" nennt, das in eine menschlichere Gesellschaft führe, wieder aufgelegt sein. Erika Schuchardt wird die Reihe ihrer Publikationen zur sozialen Integration Behinderter, zu Theorie und Beratung in der Aus- und Weiterbildung sowie zur Lebensweltforschung um einen Titel erweitert haben: "Jede Krise ist ein neuer Anfang", von ihr herausgegeben und eingeleitet, ist erneut eine Sammlung von Schicksalen, gedacht für alle, die mit Leiden, chronischer Krankheit, Behinderung konfrontiert werden: Angehörige, Seelsorger, Pädagogen, Fachkräfte und Laien. Lebensgeschichten, aus denen sich lernen lässt, dass man an Schicksalsschlägen nicht immer nur zerbrechen muss.
Erika Schuchardt, seit 1972 Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland mit den Neigungsbereichen Mission und Ökumene, träumt, nach ihren Hobbys befragt, leise jenen früheren Jahren nach, als sie noch Muße zum Geigenspiel besaß. Das würde sie gerne beleben: Orchester, nicht etwa erste Geige. Im übrigen sind die Grenzen von Arbeit und Hobby fließend: die "Seminare mit Betroffenen" sind für sie beides.
Erika Schuchardt: Ein Mensch lebt seine Bücher.