Rezensionen - Warum gerade ich...?

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Prof. Dr. Erika Schuchardt, Autorin, Bildungsforschung/Erwachsenenbildung, Universität Hannover
Dankesrede nach Literaturpreisverleihung, Bethel/Bielefeld
In: Der weite Raum, Heft 5, Dezember 1984


... Dankesrede nach Literaturpreisverleihung:
Es hat mich sehr berührt, dass mein Buch – und damit ich selbst – verstanden wurde. Aber es bewegt mich noch mehr, dass Sie, Preisverleiher, Leser, Zuhörer, den Schrei der Betroffenen gehört und ausgehalten haben und dass der Deutsche Verband Evangelischer Büchereien mit dieser Auszeichnung der Öffentlichkeit wie auch seinen über 2500 Evangelischen Büchereien das Miteinander-Leben und Voneinander-Lernen nahe zu bringen sucht.
Doch können Sie, verehrte Gäste, sich vorstellen, dass mich selbst in dieser Stunde die Frage bestimmt: Warum gerade ich ...? Wäre es nicht angemessener, den Preis den Betroffenen selbst anzutragen ..., von denen und mit denen ich lernte, die mir 'Lehrmeister‘ wurden?! ... um das wenigstens annähernd zu realisieren, möchte ich das mit der Auszeichnung verbundene Geld an die Betroffenen weitergeben, d.h. der Bildungsarbeit zur Integration zuführen ...

Dankesrede nach der Literaturpreis-Verleihung: Leiden eine Lernchance

Ich erhalte diese ehrenvolle Auszeichnung in BETHEL, das heißt im Hause FRIEDRICH VON BODELSCHWINGHs. Sein ausdrücklicher Wunsch war es: "Jeden Tag ein Dankeslied mehr und ein Klagelied weniger!“ Ich habe allen Grund, ein Dankeslied anzustimmen, und es ist mir eine besondere Freude, daß Sie alle — oft von weit her — gekommen sind, um mich dabei zu begleiten. Es hat mich sehr berührt, daß mein Buch — und damit ich selbst — verstanden wurde. Aber es bewegt mich noch mehr, daß Sie, Preisverleiher, Leser, Zuhörer, den Schrei der Betroffenen gehört und ausgehalten haben und daß der Deutsche Verband Evangelischer Büchereien mit dieser Auszeichnung der Öffentlichkeit wie auch seinen über 2.500 ev. Büchereien das Miteinander- Leben und Voreinander Lernen nahezubringen sucht.

Doch können Sie, verehrte Gäste, sich vorstellen, daß mich selbst in dieser Stunde die Frage bestimmt: Warum gerade ich? Wäre es nicht angemessener, den Preis den Betroffenen selbst anzutragen - auch allen jenen, die heute aus vielerlei Gründen nicht unter uns sein können und für die wir diese Feier auf Tonkassetten aufzeichnen -, von denen und mit denen ich lernte, die mir Lehrmeister wurden? Jene Betroffenen, die mich mitnahmen auf ihrem mühselig langen Weg des Suchens, die mich hineinnahmen in ihr oft auswegloses Zweifeln und Klagen? Dies wäre sicher eine ernsthafte Alternative gewesen. Und um sie wenigstens annähernd zu realisieren, möchte ich das mit der Auszeichnung verbundene Geld an die Betroffenen weitergeben, das heißt der Bildungsarbeit zur Integration zuführen.

Warum gerade ich ....? Das ist die Frage aller von Schicksal Betroffenen, das sich Aufbäumen gegenüber unaufhebbarem Leiden. Und wir wissen es alle, es ist Jesu Kreuzesfrage: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jene Frage, Jesu letztes überliefertes Wort, vom Evangelisten Lukas ausgespart, umfaßt alles menschliche Fragen, und mehr als das, läßt es überhaupt erst zu.

Vielleicht meinen einige unter Ihnen, ein preisgekröntes Buch habe für solch eine Frage eine fertige Antwort parat. Doch schon die Einführung der Herausgeberin der gesamten Buchreihe, Gerta Scharffenorth, der ich an dieser Stelle noch einmal auf das herzlichste für die Begleitung auf meinem Weg danke, belehrt eines anderen: "Keine Antwort wissen“, so lautet die Überschrift. Dieser Satz gilt für uns alle.

Trotz dieser Überzeugung möchte ich heute einen Versuch machen, mich gemeinsam mit Ihnen dieser tiefmenschlichen, verzweifelten Frage nach dem Warum auf eine neue Weise zu nähern. Ich lade Sie zunächst ein, mit mir das Titelbild meines Buches genauer zu betrachten, vielleicht gibt uns die Vision des Künstlers hierzu einige Anhaltspunkte.

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Es handelt sich um das Portrait einer jungen Frau, ein Pastell, das Werk eines Betroffenen, eines Künstlers und Freundes — DORELL DOBOCAN —; er malte es angesichts einer ausweglosen Situation — dem Leiden an der Todesgewißheit seiner krebskranken Frau. Auf den ersten Blick erschreckt uns das Dunkel des Hintergrundes, seltsam überstrahlt von dem flutenden Licht eines weißen wehenden Spitzentuches am unteren Bildrand. Lassen wir uns aber ein auf das Dunkel der Schatten, tasten wir uns an eine Begegnung heran. Wir erkennen zwischen Hell und Dunkel die Konturen des sensiblen Gesichtes einer Frau. Aber zugleich verraten die angespannten Züge, die leicht erhobene Augenbraue, die aufeinander ruhenden, doch zum Sprechen bereiten Lippen, die gesenkten Augenlider das Geheimnis, das sie bewegt: Sie ist eine Suchende, Fragende, die gesammelt lauscht; man meint zu erkennen, sie erwarte die Antwort nicht mehr von außen, sie sucht nicht mehr umherirrend den Horizont außerhalb ihrer selbst ab nach Lösungsversuchen, vielmehr richtet sie ihren Blick, ihre konzentrierte Wachsamkeit nach innen, sie horcht in sich hinein, sie ringt um ihre eigene Antwort. Die Diagonale eines ganz schwachen Lichtstrahls durchbricht das Dunkel; Licht breitet sich aus über dem Antlitz, Einsicht wächst und gewinnt Raum. Wir spüren, es erschließt sich ihr offene Zeit und Zukunft. Die Verse von MANFRED HAUSMANN "Weg ins Dunkel“ kommen in den Sinn:

"Wer des Lichts begehrt, muß ins Dunkel gehen,
was das Grauen mehrt, läßt das Heil entstehen,
wo kein Sinn mehr ist, waltet erst ein Sinn,
wo kein Weg mehr ist, ist das Wegs Beginn.“

Kann uns die Intuition des betroffenen Künstlers ein Schlüssel zu dem Geheimnis sein, hat er vielleicht den Zusammenhang von Leiden und Lernen erfaßt ?

Ich habe in meinem Buch zum Thema Leiden und Lernen neben Deutungen Betroffener auch Theologen zu Wort kommen lassen. Heute möchte ich Ihr Nachdenken auf einige exemplarisch ausgesuchte Gedankengänge in Philosophie und Literatur lenken.

Der Philosoph HANS-GEORG GADAMER beschäftigt sich mit dem Leiden im Zusammenhang mit Überlegungen zum Wesen der Erfahrung. Er hält es - unter Berufung auf FRIEDRICH HEGEL – für gesichert, daß Erfahrung im weitesten Sinne nur aus negativen Erlebnissen erwächst, daß Erfahrung aber nicht etwa nur den Satz "Aus Schaden wird man klug“ umfaßt, sondern viel weiter greift. Er findet die wesentliche Dimension der Erfahrung schon bei AISCHYLOS in der Antike formuliert, nämlich in der richtigen Erkenntnis des Satzes: "Durch Leiden lernen“ - "pathei mathein?“ Ich wiederhole: nicht "a u s Schaden lernen“, sondern "d u r c h Leiden lernen“. GADAMER führt dies aus für unsere Zeit: "Was der Mensch durch Leiden lernen soll, ist nicht dieses oder jenes, sondern ist die Einsicht in die Grenzen des Menschenseins, die Einsicht in die Unaufhebbarkeit der Grenze zum Göttlichen hin“. Und weiter: "Erfahrung ist also Erfahrung der menschlichen Endlichkeit. Erfahren im eigentlichen Sinne ist, wer ihrer inne ist, wer weiß, daß er der Zeit und der Zukunft nicht Herr ist.“

Verstehen wir das recht: Hier wird nicht etwa ein Sinn, ein Zweck des Leidens konstruiert; hier wird vielmehr Leid als konstitutives Element für das Verständnis des Lebens erfaßt – dies kommt dem christlichen Glauben sehr nahe, ist aber auch ein anthropologischer Ansatzpunkt.

Betrachten wir das Antlitz der abgebildeten jungen Frau noch einmal: Hat eine unauslöschbare Erfahrung von Endlichkeit das Bewußtsein des Künstlers geprägt und durch seinen Pinsel Gestalt angenommen? Mir scheint, es gelang ihm, zugleich den vom Leiden betroffenen wie den schon im Leiden erlösten Menschen abzubilden: Eine Glaubende, die nicht frei ist vom Schmerz, Verlust, Entbehren, aber im Leid frei wird für Gott. Haben wir durch Leiden unsere Endlichkeit erfahren, hat unser blindes Verlangen, alles machen zu können, seine Grenze gefunden, so stößt auch das Selbstbewußtsein unserer planenden Vernunft an seine Grenze. Wir sind befreit vom zwanghaften Handeln und Agieren für das Lassen-Können, für die Fähigkeit, gelassen zu werden. Das ist es zum Beispiel auch, was der Philosoph und Theologe SØREN KIERKEGAARD in seinem Ringen um das "Entweder — Oder“ als die Neubesinnung des Menschen auf sein eigentliches Sein als neues Dasein vor Gott entfaltet. Für KIERKEGAARD gibt es nur noch den einen Sprung "hunderttausend Klafter tief ins Ungewisse“, das Wagnis des Glauben "sich in der Bodenlosigkeit des Daseins, in der bedrohenden Einsamkeit dem liebenden Gott rückhaltlos anzuvertrauen“.

Auch HANS-GEORG GADAMER hatte darauf hingewiesen, daß die Einsicht in die Grenzen des Menschseins eine religiöse Erkenntnis und damit diejenige Erkenntnis sei, die die Geburt der griechischen Tragödie bewirkte. Verfolgen wir diese Gedanken weiter, so finden wir bei BENNO VON WIESE einem Literaturhistoriker unserer Zeit, weiterführende Überlegungen: In seinem sehr umfassend angelegten Werk "Die deutsche Tragödie von LESSING bis HEBBEL“ hat er den Versuch unternommen, die Geschichte der Tragödie als eine Geschichte der "Gestaltung des menschlichen Leidens“ darzustellen. Auch für VON WIESE ist die Tragödie ein gestaltendes Befassen mit den Grenzsituationen des Lebens — die Übereinstimmung mit GADAMERs Gedanken ist unverkennbar.

Aus Darlegungen BENNO VON WIESEs zur geschichtlichen Fortentwicklung der Tragödie greife ich zwei für uns besonders relevante Beobachtungen heraus:

Da ist einmal die Aufdeckung eines inneren Wandlungsprozesses, in dessen Verlauf der in einer Grenzsituation leidende Mensch sich von der Verneinung dieses Schicksals zur Bejahung des unfaßbar schweren Daseins bewegt; er erfährt, wie BENNO VON WIESE formuliert, "jenes paradoxe Leid, das uns ... nicht den Unwert, sondern gerade den Wert des Leidens zum deutlichen Bewußtsein bringt“. Das Leid vernichte nicht nur das Menschliche bis an die Wurzel, sondern mache seinen Wert in einer ebenso erschreckenden wie strahlenden Weise sichtbar.

BENNO VON WIESE gelangt dann zu einer Unterscheidung zwischen der "Erlösung v o m Tragischen“, bei der das Leben aufgehört habe, tragisch zu sein, und — darum geht es ihm vor allem — der "Erlösung i m Tragischen selbst“, bei der die Tragik von i n n e n her gewandelt und aufgehoben werde. VON WIESE zeichnet freilich nur Entwicklungslinien der Tragödie auf, verrät uns nicht, w i e der leidende Mensch die "Erlösung i m Tragischen“ gewinnt. Doch fällt es nicht schwer, in dem Ringen und Kämpfen des Leidenden, das er darstellt, ein Lernen zu erkennen. Dies aber nicht etwa als Sinndeutung des Tragischen, sondern als Chance zum Leben.

Lassen wir nun einen Schriftsteller der Gegenwart zur Worte kommen, der zunächst den Versuch Sinndeutung des Leidens wagte. In dem vielen von uns bekannten Buch "Die Brücke von San Louis Rey“ hat THORNTON WILDER den unerklärbar harten, zufällig erscheinenden Tod von fünf Menschen, die eine gerade berstende Hängebrücke überschritten, im Wege einer Sinnfindung zu deuten versucht. Hat ihn dieser Versuch nach seiner wachsenden Erfahrung nicht befriedigt?

Vierzig Jahre später rückte THORNTON WILDER, worauf HAROLD KUSHNER aufmerksam gemacht hat, in seinem Roman "Die acht Tage“ merklich ab von der Vorstellung, Leiden sei schon Sinnerfüllung. Was für ihn blieb, war — dargestellt am Beispiel eines geknüpften Teppichs, der von oben betrachtet als ein prächtiges Kunstwerk erscheint, aber von unten, aus der Menschen Blickwinkel, nur als eine Wirrnis von Ketten, Fäden und Knoten — allenfalls die Chance, in einer Grenzsituation Gottes Walten erkennen zu lernen.

"Keine Antwort wissen“ auf die Frage nach dem 'Warum’ — das hat auch dieser kurze Durchgang durch neuere Literatur, Erwägungen von Philosophen und Schriftstellern ergeben. Aber das Leid anzunehmen und auf Antwort zu warten, eine eigene Antwort auf die Frage nach dem 'Wozu’ des Lebens zu finden, dafür fanden wir Fingerzeige.

Mit einer Erfahrung aus dem Leben des Gründers dieser Anstalt will ich schließen: Pastor FRIEDRICH VON BODELSCHWINGH und seine FRAU verloren als junge Eltern innerhalb von 12 Tagen ihre vier Kinder. Nach qualvollen Tagen und Nächten eines vergeblichen Kampfes starben die Kinder. Auf die vier Grabsteine ließ er schreiben "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“, Ob er aus den Tiefen dieses Leidens heraus Vertrauen im Ungewissen erlernte und ein Jahr später die Kraft gewann, um nach Bethel aufzubrechen und dort einen Lebensraum für leidende Menschen zu schaffen?