Rezensionen - Warum gerade ich...?

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Bischof Prof. Dr. Wolfgang Huber, Vorsitzender des Rates der Ev. Kirche in Deutschland (EKD), Berlin/Hannover
Würdigung des Buches „Warum gerade ich …?“ anlässlich der Verleihung des Kronenkreuzes in Gold des Diakonischen Werkes der Ev. Kirche in Deutschland am 12. März 2002 im Haus der EKD Berlin an Frau Prof. Dr. phil. habil. Erika Schuchardt


… Der Anwältin für Integration das Kronenkreuz in Gold, die höchste Auszeichnung des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)...
Ein sehr theologisch fundiertes und zugleich sehr praxisorientiertes Buch ... Hier ist die Aggression eine eigene Spiralphase ... explizite Ausdrucksform des Glaubens ... Seiner Autorin ... muss man von Herzen dazu gratulieren, denn ein Buch, das aus der Zeit heraus entstanden ist, das eine Intervention in die Verhältnisse der Zeit sein wollte, dass ein solches Buch noch nach 20 Jahren eine unverminderte, unveränderte ... gesteigerte Aktualität hat, ist außergewöhnlich.
Von Anfang an, seit meiner ersten Begegnung mit diesem Projekt vor 20 Jahren, seit unserer ersten persönlichen Begegnung, war es vor allem die Empathie in diesem Buch, die viele Menschen anrührte ... fortgesetzt in ... "Die Stimmen der Kinder von Tschernobyl“. Ein anderer Gegenstand, ein anderer Ausgangspunkt, aber dieselbe Haltung: Nicht zuzulassen, dass schweres Schicksal verdrängt wird ... Teilzunehmen, Krisen auszuhalten, Leben durch Krisen zu verstehen und dadurch ihrer Bewältigung zu dienen ... Der Kalender trägt auch dazu bei ... genau 6 Monate nach dem 11. September 2001 ...

Laudatio: Außergewöhnlich – Ein Buch, auch nach 20 Jahren noch gesteigerte Aktualität

Liebe Erika Schuchardt, lieber Stephan Reimers!
Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Am heutigen Abend erleben wir eine weitere Etappe auf dem Weg eines sehr bemerkenswerten Buches einer sehr bemerkenswerten Autorin. Ich habe diejenige Fassung des Buches mitgebracht, die schon lange in meinem Bücherregal steht. Die Fassung einer der Auflagen aus den frühen 80er Jahren. Ich habe noch lebendig einen Entstehungszusammenhang dieses Buches vor Augen, nämlich ein Projekt, das Gerta Scharffenorth, die vor einigen Wochen ihren 90. Geburtstag gefeiert hat, meine damalige Kollegin an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg (FEST), zusammen mit dem Deutschen Nationalkomitee des Lutherischen Weltbunds (DNK/LWB) in Gang gebracht hatte unter dem noch heute überraschend, ja befremdlich klingenden Titel "Frauen als Innovationsgruppe". Ich gebe zu, schon damals revoltierte einiges in mir gegen diesen Titel. Frauen waren in meinem Verständnis mehr als eine Gruppe, und was ich von ihnen lernte, war mehr als nur Innovation. Aber dass die Gesellschaft in Bewegung kommt durch die besondere Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeit von Frauen, das konnte man nun ganz exemplarisch an diesem Buch lernen, das sich in dieses Projekt auf besondere Weise einfügte.

"Warum gerade ich? Behinderung und Glaube. Pädagogische Schritte mit Betroffenen und Begleitenden." So hieß damals der Titel . Ein Buch aus den frühen 80er Jahren, das damals sehr bald dann mit dem Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Ein Buch, das seitdem viele Auflagen erlebt hat und das wir hier heute zu Recht feiern. Seiner Autorin, und das ist das erste, was ich heute hier sagen will, muss man von Herzen dazu gratulieren, denn ein Buch, das aus der Zeit heraus entstanden ist, das eine Intervention in die Verhältnisse der Zeit hinein sein wollte, dass ein solches Buch noch nach zwanzig Jahren eine unverminderte, unveränderte, unter manchen Gesichtspunkten – Universalität/ Krisen der Gesellschaft - gesteigerte Aktualität hat, ist außergewöhnlich. Das Buch ist mit den Jahren gewachsen, es hat sozusagen Jahresringe angelegt, es ist zusätzlich gewachsen, nicht zuletzt durch seine Dokumentation und damit verbunden durch seine Ausweitung auf Krisen in ihrem universalen Verständnis.

Es ist ein sehr theologisch fundiertes und zugleich sehr praxisorientiertes Buch. Was uns hier vor Augen steht, wird dargestellt auf dem Hintergrund von 2000 Lebensgeschichten aus dem 20. Jahrhundert, selbst erlebten und selbst recherchierten genauso wie literarisch überlieferten. Es ist ein aus dem Leben gewonnenes, dem Leben abgerungenes Buch. Es führt uns zwei Schritte zugleich: Es führt uns in das Dunkel behinderter – heute, aus universaler Sicht, von Krisen schon betroffener - Menschen und in die gesellschaftliche Reaktion darauf; es führt uns aber auch aus dem Dunkel ins Licht.

Von Christian Krause stammt die Aussage, dieses Buch erzähle uns Passionsgeschichten in der Passionszeit. Insofern ist dieser Termin, durch mehrere Faktoren des Kalenders verschuldet, wie das immer so geht, ein Termin zur rechten Zeit, nämlich in der Passionszeit. Dazu gehört, dass wir in den sieben Wochen der Passionszeit unsere Fähigkeit und unsere Bereitschaft auszubilden versuchen, mit den Leidenden mitzuleiden. Sie nicht länger als bloße Objekte zu sehen, sondern sie als Subjekte ihres eigenen Lebens ernst zu nehmen. Uns von ihrer Situation so betreffen zu lassen, dass wir sie auch zu begleiten vermögen. Aber Passionszeit, das ist auch die Zeit des Wartens auf das Licht, das in dieses Dunkel hereinbricht. Es ist ein Festhalten an der Hoffnung, dass das Leben stärker ist als der Tod - auch das kann man aus diesem Buch lernen. Von Anfang an seit meiner ersten Begegnung mit diesem Projekt vor 20 Jahren, seit unserer ersten persönlichen Begegnung war es vor allem die Empathie in diesem Buch, die viele Menschen anrührte.

Das hat die Autorin dann auch fortgesetzt in ihrem in Verbindung mit Lew Kopelew entwickelten und herausgegebenen Buch über "Die Stimmen der Kinder von Tschernobyl". Ein anderer Gegenstand, ein anderer Ausgangspunkt, aber dieselbe Haltung: Nicht zuzulassen, dass schweres Schicksal verdrängt wird, nicht anzunehmen, dass das, was gesellschaftliche Umstände, wissenschaftliche Entwicklungen, technologische Fehler Menschen zumuten, dass das aus unserem Bewusstsein verschwindet, sondern Empathie aufzubringen. Teilzunehmen, Krisen auszuhalten, Leben durch Krisen zu verstehen und dadurch ihrer Bewältigung zu dienen. Und in der Tat, der Kalender trägt auch dazu bei, dass wir uns heute Abend diesem Buch und seiner Autorin, aber vor allem seinem Thema zuwenden, nahezu genau sechs Monate nach dem 11. September 2001.

In einer Situation, in der sich uns auf eine ganz andere Weise die Frage aufgedrängt hat, die auch immer wieder die Frage von Menschen ist, die mit Krankheit zu kämpfen haben, mit dem Tod konfrontiert sind, ihr Leben mit Behinderungen gestalten müssen; die Frage nämlich: "Wie kann Gott das zulassen?"

Nach den schrecklichen Terroranschlägen von New York und Washington vor genau einem halben Jahr wurde diese Frage immer wieder gestellt. Wo war Gott in dem Geschehen? Eine junge Frau kam wenige Tage nach den Terroranschlägen während der Kundgebung am Freitag jener Woche vor dem Brandenburger Tor mitten im Gewühl mit dieser Frage auf mich zu. Wenn Gott allmächtig sei, so sagte sie, kann er doch solcher verbrecherischer Gewalt nicht ihren Lauf lassen. Auf Gottes Allmacht berief sich meine Gesprächspartnerin, um die verständliche Erwartung zu unterstreichen, dass Gott dem Terror in den Arm fällt. "Wo ist Gott?"

So hat auch eine große Berliner Tageszeitung dazu eine Seite im letzten Jahr wöchentlich erscheinen lassen und daraus eine Artikelserie gemacht. Damals schon den Versuch einer Antwort von verschiedenen Autoren unternommen.
Wer hätte gedacht noch vor sieben Monaten, dass eine Tageszeitung sich das traut - eine regelmäßige Kolumne unter dem Titel "Wo ist Gott?“

Ein ganzes Jahr ist es ebenfalls fast auf den Tag genau her, dass ich am 11. März 2001 in Eberswalde einen Trauergottesdienst für ein entführtes und missbrauchtes, später dann ermordetes Mädchen zu halten hatte. In der Predigt hatte ich in der Sprache der Psalmen gesagt: Wir, die wir auf Gott vertrauen, fragen: "Wo warst Du, Gott, an diesem Tag, an dem dieses junge Leben abgebrochen, gewaltsam beendet worden ist?" "Wo warst Du, Gott?" ist an dem folgenden Tag die Schlagzeile in der Bild-Zeitung gewesen.

Neben vielen zustimmenden Reaktionen auf diesen Gottesdienst erreichten mich aber auch Briefe, in denen ich gefragt worden bin, wie ich als Bischof die Frage nach der Existenz Gottes überhaupt stellen könne. Ich sollte als Seelsorger diese Frage nicht in einer Predigt stellen, sondern einfach Gottes Heil verkündigen.

Die Frage nach Gott und nach seiner Gegenwart stellt sich in welterschütternden Katastrophen oder familiären Notsituationen, stellt sich angesichts eines übergreifenden Zusammenhangs oder einer mich persönlich sehr betreffenden Situation. Diese Frage muss man aushalten, wenn man Antworten auf sie finden will. Der Frage auszuweichen, sie nicht zuzulassen, sie zuzudecken mit schnellen Antworten gilt gerade nicht. Die biblischen Texte und Geschichten sind vor allem geprägt von eindrucksvollen Beispielen in der Überzeugung, dass Antworten auf diese Frage zu suchen voraussetzt, die Frage auszuhalten. Sie belehrt uns, dass die Welt aus Gottes Hand stammt und in Gottes Hand liegt. Sie versteht erfahrenes Leid und widerfahrenes Böses nicht automatisch als Strafe Gottes, als Ausdruck eines Tun-Ergehens-Zusammenhanges. Sie hält der offenen Frage nach dem Ursprung des Leids, dem Bösen stand.

Die Hiobserzählung ist dafür das eindrucksvollste Beispiel. Sogar Hiob, der angesichts des unbegreiflichen Leidens, das ihm widerfährt, spürt, wie die schon ihm überlieferten Antworten nicht tragen. Hiob, der versucht, sich in Gott hineinzudenken, auch wenn das, was er dabei versucht, allen überlieferten Interpretationsversuchen widerspricht. Gottes Antwort ist der Hinweis auf die eigene Schöpfertat, ohne dass dabei das Leiden erklärt wird. Die Botschaft an Hiob ist, dass auch das Leiden als Leiden gerade nicht als Zweck erklärt ist, in den Glauben an Gott hineingenommen werden kann.

Noch deutlicher zeigt das Jona-Buch die Abkehr von dem, was man den Tun-Ergehens-Zusammenhang nennt. Ninive wird nicht zerstört, obwohl die Stadt es doch verdient hätte. Das Auftreten des Jona verbindet sich mit der völlig unerwarteten, unerwartbaren, unverdienten Chance des Neubeginns für diese in Bosheit versunkene Stadt. Gottes Heil verbindet sich mit dem Zorn Gottes selbst. Gottes Bereitschaft zum Vergeben ist das, was an dieser Geschichte so bewegt. Eine Abkehr von einem Bild Gottes, das ihn als den unveränderlich Zürnenden und Strafenden zeigt. Gott hat eine Geschichte, eine Beziehung mit den Menschen, denen er sich immer wieder neu zuwendet, die er nicht loslässt. Immer wieder wird dabei die Barmherzigkeit und Geduld Gottes mit den Menschen sichtbar. Und aus der Perspektive von Christinnen und Christen muss man natürlich vor allem sagen, die Jesus-Geschichte ist das eindrückliche Beispiel dafür, dass gerade nicht ein zwangsläufiger Erklärungszusammenhang zwischen dem, was Menschen getan haben und was ihnen widerfährt, alles beherrschen darf. Gott offenbart sich in Jesus als der ein für allemal Liebende, als der, der die menschliche Sünde als Ausdruck des Getrenntseins von Gott überwinden wird, als der, der für Menschen über Abgründe hinweg neue Gemeinschaft gefördert hat. Er eröffnet sie mit der Macht der Liebe und dem Verzicht auf die Wahrzeichen von Macht und Gewalt. Das zu erneuernde Bewusstsein unserer Herzen ist der Sinn der Passionszeit. Wir verweisen dabei auf Passionsgeschichten in der Passionszeit. Dass sich in ihr die Wahrheit widerspiegelt in den Möglichkeiten der Menschen, die durch Krisen gehen müssen, in diesen Krisen standhalten, wenn wir Beispiele sehen, wie andere sich ihnen zuwenden.

Krisen, das ist ein Schlüsselwort in der Art und Weise, mit der Erika Schuchardt sich dieser Lebenswirklichkeit zuwendet. In jeder Krise liegen eine Chance und eine Gefahr, so heißt ein in der Seelsorge, in der Psychotherapie oft gebrauchter Satz. Manchmal scheint es mir aber, als würde die Verzweiflung und die Not, die mit wirklichen Krisen einhergeht, mit diesem Satz zu schnell übergangen. Es gibt in meiner Wahrnehmung eine optimistische Deutung der Krise, in jeder Krise liege eine Chance, die die Tiefe der Krise, das Abgründige an ihr, die Ausweglosigkeit, in die Menschen geführt werden können, gerade verharmlost und überspielt: "Geht der Trost zu weit, verdoppelt er das Leid!", sagt ein kluger Bischofskollege von mir. Es gibt auch eine zu tröstende Redeweise von einer Krise, die es in Wahrheit nicht gibt.

Als Krise, so sagen die Klugen, bezeichnet man einen zeitlich abgrenzbaren psychischen Zustand, der von belastenden Situationen, plötzlichen Ereignissen oder Entwicklungen im Lebenslauf ausgelöst und als Existenz bedrohend erlebt wird. In einem solchen Prozess kommt es zu einer Veränderung des Selbstwertgefühles, der Kriterien für den Umgang mit der Wirklichkeit, in deren Grenzen die als belastend empfundene Hilflosigkeit wächst. Die bisherigen Verhaltensmuster, mit Veränderungen umzugehen, tragen nicht mehr. Immer dann, wenn der Mensch seine Grenzen, seine Endlichkeit erfährt in Tod, Krankheit, im Unglück der Beziehung, in Arbeitslosigkeit, erlebt er unübersehbar, dass er nicht heil ist. Krise hat mit der Erfahrung des beschädigten Lebens zu tun. Noch einmal sage ich, man solle die Erfahrung solcher Beschädigung nicht so schnell klein reden, um so die Krise zu fassen.

Die Begleitung von Menschen, ihnen Zuwendung zu geben, in unmittelbarer Nähe wie in der gestaltenden Form von Seelsorge, ist eine derjenigen Formen, in denen die Wahrheit des Evangeliums sich unter uns spiegelt. Weil nämlich diese Zuwendung auf ihre Weise eine Antwort auf den Glauben an den gnädigen Gott darstellt. Jeder Mensch, so sagt dieser Glaube an den gnädigen Gott, jeder Mensch ist mehr, als er aus sich selbst macht, weil Gott mit seinem Blick ihm dieses Mehr verleiht. Niemand von uns ist identisch mit seinen Leistungen und Gott sei Dank auch nicht mit seinen Fehlleistungen. Niemand von uns ist im Blick Gottes identisch mit seinen Stärken und auch nicht mit seinen Schwächen. Dass ich Person bin, sagt über mich mehr aus, als die Summe meiner Taten je sagen könnte. Dass ich Person bin, sagt Gott sei Dank auch mehr über mich aus, als die Summe meiner Untaten je über mich sagen könnte. Das ist das große Geschenk des Glaubens, dessentwegen wir inzwischen Gott sei Dank in ökumenischer Gemeinsamkeit nicht aufhören können, die Botschaft von der Rechtfertigung zu buchstabieren. Denn in ihr geht es um diesen ganz elementaren Lebenssachverhalt. Ich kann verantwortlich handeln, weil ich geachtet bin, über all mein verantwortliches Handeln und deshalb auch über mein unverantwortliches Handeln hinaus. Das ist der grundlegende Sinn dessen, warum die Rechtfertigungsbotschaft, der Kern des christlichen Glaubens, im Heil liegt.

Das ist auch der Horizont, von dem aus ich gerne verstehen und vielleicht durch diese Überlegung einen kleinen Beitrag dazu leisten möchte, was es heißt, mit Krisen umzugehen und Menschen in Krisen beizustehen und sie zu begleiten, sie mit dem Blick anzuschauen, den ich gerade zu beschreiben versucht habe. Und diesen Blick hineinzutragen in die verschiedenen Phasen, in denen Krisen sich vollziehen.

Erika Schuchardt hat in ihrem Buch ein Universal-Modell zur Krisenverarbeitung in acht Spiralphasen entwickelt und dargestellt, von dem diejenigen, die das weit besser wissen, als ich es wissen kann, sagen, dass es ein Modell ist, das für den Bereich der Seelsorge sich sowohl für die Seelsorgetheorie als vor allem auch für den Vollzug der Seelsorge als wichtig und hilfreich erweist. Die Phase der Ungewissheit steht am Anfang, die Phase der zumeist schrecklichen Gewissheit folgt. Das ist eine Phase, die abgelöst wird von Körper und Seele durch die Phase der Aggression, der aggressiven Abwehr dessen, was zur schrecklichen Gewissheit geworden ist. Über die Phasen der Verhandlung und der Depression kommt es zur Annahme, die die Rückkehr in das aktiv gestaltete Leben ermöglicht und die Voraussetzung dafür bildet, selbst in dieser Labilität in eine Begegnung mit Menschen einzutreten, die in ähnlicher Situation sind. Jede dieser Phasen, die ich jetzt wie Perlen an einer Schnur vor Ihnen aufgereiht habe, verdient es und erfährt es in dem Buch, eingehend dargestellt und geschildert zu werden. Wer diesen Phasen aufmerksam folgt, der wird auch spüren, dass diejenige Phase, die in ganz besonderer Weise es verdient, theologische Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die Phase der Aggression ist. Diejenige Phase übrigens auch, die in besonderer Weise der Gestaltung bedarf. Diejenige Phase, von der ich denke, dass sie in ganz besonderer Weise nach dem Ritual förmlich und buchstäblich schreit, nach Ausdrucksformen, die hier begehrt werden.

Bei den Anlässen zum 11. September des letzten Jahres, von denen ich kurz gesprochen habe, habe ich selbst auf ganz neue Weise gelernt, was ich zwar vorher wusste, aber sozusagen körperlich auf neue Weise gelernt habe: Welche Kraft in der Sprache der Klage liegt, wie die Zeiten sie sprechen. Wie wir alle hineingekrochen sind in diese Sprache in bestimmten Phasen. Wie auch Menschen, die dieser Sprache von ihrer eigenen Lebensgeschichte her ganz fremd sind, sich plötzlich diese Sprache geliehen haben. Und ich war dankbar dafür, dass wir als Kirche diese Sprache leihen können. Die Klage für Gott und vielleicht auch gegen Gott auszusprechen und auszuhalten, ihr Raum zu geben, sie nicht zuzudecken, ist eine wichtige Aufgabe, ihr Raum zu geben, für mich eine der wichtigsten aus diesem Buch. In diesem Buch ist die Aggression, von der ich jetzt gesprochen habe, eine eigene Phase, eine Spiralphase auf einem Weg, von dem man wünschen möchte, dass er gelingt, dass er zur Begleitung und zur wieder neu entwickelten Fähigkeit der Solidarität mit anderen führt, dass er in einen Raum hineinführt, der von 'Sym-Pathie’ geprägt ist, wörtlich zur Fähigkeit 'mit-zu-leiden’. Nach meinem Dafürhalten ist das keine beliebige Folge des christlichen Glaubens, sondern seine explizite Ausdrucksform und reale Umsetzung. In diesem Sinn übrigens lese ich das Buch von Erika Schuchardt nicht nur als eine Einladung zum psychologischen Nachdenken, sondern in sich selbst auch als ein theologisches Buch.

Von der Situation am 11. September habe ich gesprochen. Ihre Pforten zu öffnen war die erste Reaktion der Kirchen auf die Schrecken des 11. September. Einen Ort zu bieten für Trauer und Angst, für Ohnmacht und Klage war ihre erste Aufgabe. Viele nahmen diese Möglichkeit wahr, sie suchten Gott dort, wo man mit der Klage, mit der Trauer sich hinwenden konnte, die Klage wurde zu einem Symbol dafür, wie wir mit belasteten Situationen des Lebens überhaupt umgehen können. Das ist die Hoffnung, die mich seitdem beschäftigt, die Hoffnung, für die ich einen sehr lebendigen Widerpart gefunden habe, als ich mich jetzt wieder nach 20 Jahren mit Erika Schuchardts Buch beschäftigt habe. In diesem Sinne erzählt es dann nicht nur Passionsgeschichten zur Passionszeit, sondern in diesem Sinn lässt es uns österlich hineinleuchten in Passionsgeschichten und in die Passionszeit. Dafür möchte ich mich sehr herzlich bedanken.