Rezensionen - Warum gerade ich...?

v22 01 th

Prof. Dr. Karl E. Nipkow, Theologische Fakultät und Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Tübingen
In: International Year Book of Adult Education - Internationales Jahrbuch der Erwachsenenbildung - L´année internationale de I'éducation des adultes, Hg. Joachim Knoll, Band 12/13, Köln/Wien, 1984/85, S. 177-180


… Literaturpreis 1984: … Für Medizin, Theologie und Pädagogik, für Seelsorger, diakonisch Tätige, Jugendarbeiter, Erwachsenenbildner und Religionspädagogen ist Erika Schuchardts Buch eine Herausforderung – für die Betroffenen und uns alle eine persönliche Hilfe, insgesamt ein Werk, für das man dankbar sein muss ...

Rezension: Literatur-Preis 1984: Herausforderung für Medizin, Theologie und Pädagogik

Für die Arbeit mit Erwachsenen stellen behinderte Menschen eine paradigmatische Herausforderung dar. Schon seit einigen Jahren Ieistet die in Hannover tätige Erziehungswissenschaftlerin Erika Schuchardt zu diesem schwierigen Problemfeld bedeutsame Beiträge. Ihr jüngstes einschlägiges Buch, "Warum gerade ich...? Behinderung und Glaube" ist mit dem Buchpreis 1984 des Dt. Verbandes Ev. Büchereien ausgezeichnet worden. Es verdient diese Würdigung aus mehreren Gründen.

Es ist erstens ein Buch über von Leiden Betroffenen, das selbst betroffen macht. Die These, daß Nichtbehinderte den Anblick der Behinderung aus ihrem Gesichtskreis und Bewusstsein insgeheim verdrängen möchten, kann der Leser beim Lesen an sich selbst bestätigt finden. Aber er erlebt auch ein Zweites: Nicht nur das Dunkel seines Leides wird ihm vor Augen geführt, sondern auch das Licht im Dunkel. Er wird nicht nur zur Antizipation seiner eigenen möglichen Hilflosigkeit veranlasst, sondern er erfährt kraft der Partizipation an den Glaubensgeschichten der Betroffenen auch den Weg aus dem Leid heraus. Das Buch verwandelt. Man möchte es eigentlich gar nicht rezensieren. Der größere mittlere Teil (Kap. 3) läßt Betroffene selbst in eindringlichen Zitaten zu Wort kommen (Luisa Habel: körperbehindert; Ingrid Weber-Gast: durch Depression seelisch behindert; Jaques Lusseyran: durch Blindheit sinnesbehindert; Ruth Müller-Garnn sowie Sylvia und Albert Görres: Eltern geistigbehinderter Kinder; Laurel Lee: krebskrank). Alle sprechen von ihrem Glauben. Das Buch wird zu einem Glaubensbuch.

Erika Schuchardts Werk verträgt und verlangt jedoch auch eine professionelle Besprechung. Es hält zum einen empirischen wissenschaftlichen Maßstäben stand: Ihm liegt die Auswertung aller der Vfin. "zugänglichen Biographien Behinderter und ihrer Bezugspersonen aus dem Zeitraum von 1900 bis 1984" zu Grunde (S.21), insgesammt ca. 260, im Anhang in einer alphabetisch und inhaltlich gegliederten, annotierten Bibliographie aufgeführt, die schon als solche eine Leistung darstellt. Das Buch ist ferner für mehrere Disziplinen einschlägig, hat nach mehreren Richtungen etwas zu sagen, fordert nicht nur jeden einzelnen persönlich, sondern zugleich verschiedene Berufsgruppen beruflich heraus.

Um mit einem für die Studie selbst nur flankierenden, für den Religionssoziologen jedoch aufschlussreichen und dem Theologen nachdenklich stimmenden Befund zu beginnen: Sofern von den Behinderten oder ihren Angehörigen überhaupt offen über die Bedeutung der Kirche geredet wird - bei den meisten scheint die Kirche "kaum eine Rolle" zu spielen (S.20) - , bewerten die Biographen "ihre Erfahrungen mit der Kirche bzw. Seelsorge...übereinstimmend negativ", um zugleich aber zu erkennen zu geben, daß ihre "Glaubenserfahrungen ... entscheidend und bedeutsam für ihren weiteren Weg waren" (ebd.). Die Vfin. stellt diesen "Widerspruch" nur fest (ebd.). Er bestätigt den vielfach beschriebenen Tatbestand, wie stark sich das religiöse Leben individualisiert hat und der Gottesglaube auf ganz persönlichen Wegen gesucht wird, in einer Auswanderung aus dem Raum der Kirche ohne daß dadurch die Religion ihre Bedeutung für den Menschen heute verliert.

In der Form zwar moderat, in der Sache aber schwerwiegend ist darüber hinaus die konkrete Kritik an der kirchlichen Seelsorge und zum Teil auch Diakonie (Kap. 2), weil die "seelsorgerischen Begleiter" ("Gemeinde und Pfarrer") "als amtlich bestellte Rollenträger erlebt werden. Die Verkündigung gerät oft bloß zu einer "vertröstenden Verklärung" des Behindertenschicksals. Sich selbst erleben die Behinderten als "Objekte der Diakonie": "Die Kirche tut zwar etwas für uns aber selten mit uns!" (S.14). Welche Chance dies haben könnte, wird zwar nicht direkt durch eine Thematisierung kirchlicher Seelsorgepraxis und -ausbildung und christlicher Diakonie behandelt, ist aber indirekt erschließbar.

Das Buch vergegenwärtigt allerdings auch die immensen inneren Schwierigkeiten, sich als Nichtbehinderter angemessen zu verhalten. Die Verfasserin fasst sie als Mangel an "Beziehungsfähigkeit“ zusammen. Sie führt hierfür (Kap. 4) psychologisch und gesellschaftlich erklärbare Verdrängungsmechanismen an (mit T. Brocher, H.-E. Richter, J. Moltmann u.a.).Die für eine Nichttheologin verdienstvolle Zusammenstellung neuerer katholischer und evangelischer systematisch-theologischer Aussagen zum Leiden und zur Leidensfähigkeit, damit zugleich die Theodizeeproblematik (H. Küng, D. Sölle, G. Greshake u.a.) (Kap. 5), macht jedoch ebenso theologische Gründe wahrscheinlich. Manche Einsichten der neueren Theologie lassen sich offensichtlich in der Praxis der Kirche nur schwer zur Geltung bringen Und in ein angemessenes Verhalten umzusetzen: dass unverschuldete lebenslange Behinderungen und Leiden im Grunde nicht theologisch erklärt werden können, dass Gott selbst leidet, weil er liebt, und daß er ohnmächtig ist, weil er liebt und leidet (s. die Kreuzigung Jesu), um gerade so, indem er mit den Menschen das Dunkel teilt, ihnen zu helfen.


Theologen müssten schweigen, wo sie zu reden ausgebildet und gewohnt sind. Nach E. Schuchardt sollten "die Begleitenden zum Mitleiden fähig werden, das sie dazu befreit, in bestimmten Phasen der Krisenverarbeitung – vorwiegend in der Aggression, dem Verhandeln und der Depression – zeitweilig ganz oder zum Teil auf übliche seelsorgerische Hilfen wie biblische Trostworte und theologische Argumente zu verzichten“ (S. 116). Statt dessen sei nur noch "ihre Anwesenheit, ihr Nahebleiben, das Nicht-Verbergen eigener Hilflosigkeit und Angefochtenheit“ eine glaubwürdige und wirksame Hilfe, in der sich die verborgene Macht der scheinbaren Ohnmacht Gottes mitteile: "Gott erträgt den kämpfenden und hadernden Menschen und lässt ihn nicht los" (ebd.).

Nicht nur die Kirche und die Theologen haben an diesen Fragen noch viel zu lernen, sondern auch die Erziehungswissenschaft und die praktizierenden Pädagogen, besonders in der Erwachsenenarbeit. Erika Schuchardts Buch handelt auch vom "Lernen“, von "Krisenverarbeitung als Lernprozess“ (besonders in Kap. 2). Die wichtigste Aussage, die schon früher veröffentliche Forschungsergebnisse zusammenfasst, ist die Entdeckung einer psychischen Gesetzmäßigkeit. Die Stadien eines acht Phasen (Ungewissheit, Gewissheit, Aggression, Verhandlung, Depression, Annahme, Aktivität, Solidarität) umfassenden Lernweges – ein Spiralmodell, dass auffallend an das Modell von E. Kübler-Ross erinnert – "müssen unabhängig von dem Auslöser der Krise ... von allen Betroffenen durchlebt und bewältigt werden, wenn soziale Integration erreicht werden soll“ (S. 24).

Zwei Drittel erreichen dies Ziel nicht. Sie brechen resigniert und verzweifelt vorher ab. En Hauptgrund: Sie werden pädagogisch allein gelassen. Mit Recht darf die Verfasserin behaupten, daß schon die bloße Kenntnis jener Stadien eine Orientierungshilfe abgeben kann, und zwar wahrscheinlich nicht nur für die Krisenverarbeitung von Behinderten und unheilbaren Kranken, sondern auch für das "Ringen von Menschen in unabwendbaren Existenzkrisen“ überhaupt (S. 31).

Hierbei stellen sich allerdings zwei Aporien. Die erste, allgemeinpädagogische, kreist um den Punkt, was heißen soll, dass Nichtbehinderte die Behinderten für ihr eigenes Lernen "brauchen“(S. 91), wenn unter keinen Umständen dadurch die Behinderten zum "Objekt“ instrumentalisiert werden sollen, wie die Verfasserin gleich eingangs einschärft (S. 14 ff). Die Antwort Erika Schuchardts ist klar und überzeugend: Rechtens ist nur ein wechselseitiges Lernen miteinander in einer solidarisch geteilten Not. Trotzdem wartet die instrumentalisierende Funktionalisierung der Existenz der Behinderten als Versuchung stets im Hintergrund. Es ist überhaupt eine typische Versuchung für die Pädagogik, besonders unter Selbstbildungs- und Selbstverwirklichungsinteressen in der Erwachsenenbildung, andere Menschen doch wieder in sublimer Form als Mittel anzusehen, selbst wenn man sie dabei hochschätzt, weil sie "von uns verdrängte Formen des Menschseins verwirklichen“ (ebd.). Die Verfasserin erliegt dieser Versuchung nicht inhaltlich, hätte aber die Gefahr in Kap. 4 noch klarer bezeichnen können.

Die zweite, religionspädagogische Aporie betrifft die von E. Schuchardt gefundenen zwei Weisen, in denen der christliche Glaube die Krisen auffangen kann: die "naiv-apathische“ der befragten, vertrauensvollen, gehorsamen Ergebenheit und die der "kritischen Sympathie“, in der der Leidende seine Aggressionen herausschleudert und mit Gott hadert. Nach den Befunden muss diese Phase der "Aggression“ durchgemacht werden, andernfalls ist ein vorzeitiger Abbruch des Lernprozesses wahrscheinlich. Daher liegt denn auch die spürbare pädagogische Zustimmung der Verfasserin, bei der "kritisch-sympathischen“ Weise des Ringes. Es ist ihr jedoch andererseits – mit Recht – unmöglich, in dem einen geschilderten Fall (R. Müller-Garnn) die "naiv apathische“ Glaubenshaltung theologisch abzuwerten. Nicht für jeden ist dasselbe Glauben-Haben und Glauben-Lernen angemessen, mag das eine auch als reifere Glaubensstufe erscheinen. An dieser zweiten offenen Stelle gibt das Buch ebenfalls wichtige Anstöße zum Weiterdenken.

Für Medizin, Theologie und Pädagogik, für Seelsorge, diakonisch Tätige, Jugendarbeiter, Erwachsenbildner und Religionspädagogen ist Erika Schuchardts Buch eine Herausforderung, für die Betroffenen und uns alle eine persönliche Hilfe, insgesamt ein Werk, für das man dankbar sein muss. Es macht deutlich, dass der diskriminierende Umgang mit Behinderten nur ein spezieller Fall der allgemeinen Diskriminierung von Menschen ist und dass in der Achtung der Menschenwürde des Behinderten die Menschenwürde jedes Menschen auf dem Spiele steht: Die Würde des Menschen ist unteilbar.