Rezensionen - Tschernobyl

tschernobyl

"...Schuchardts Tschernobyl-Stimmen - Mahnung gegen das Vergessen..."

Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Lev Kopelew, Bonn 1995

Gedächtnisverlust bei einem einzelnen Menschen ist eine schwer heilbare Krankheit, Amnesie, ein Unglück für den Betroffenen und für seine Angehörigen. Gedächtnisverlust eines Volkes, Amnesie einer Nation, deren politische Leiter, Journalisten, Pädagogen ihre Vergangenheit vergessen, aus welchen Gründen auch immer, verdrängen oder verzerren, bedeutet eine äußerste Gefahr für die Betroffenen, für deren Landsleute und Nachbarvölker.

Tschernobyl ist ein mahnendes Zeichen, es verkündet ein neues Zeitalter, das mit der Vernichtung Hiroshimas begann. Die Psychosozialstudie von ERIKA SCHUCHARDT bringt die Notwendigkeit zum Ausdruck, immer wieder an Hiroshima und Tschernobyl zu erinnern.

Der Zerfall der zweitgrößten Atommacht hat die Gefahr von neuen Katastrophen dieser Art nicht gebändigt, auch nicht verringert, im Gegenteil, eher verschärft, denn eine schwere Granate oder Luftbombe kann jedes AKW im Osten, das den westlichen Sicherheitsstandards nicht entspricht, zu einer zehnfachen Hiroshima-, zu einer mehrfachen Tschernobylkatastrophe machen.

Die Studie von ERIKA SCHUCHARDT ist ein eigenständiges Werk, präzise wissenschaftlich, leidenschaftlich publizistisch und zugleich lyrisch. Diesem Buch wünsche ich möglichst viele Leser, vor allem Staatsmänner, Politiker, Journalisten und alle Menschen guten Willens. Im Lichte der immer noch nicht erloschenen Flammen des Tschernobylreaktors, dessen Opfer immer zahlreicher werden, muss man auch die Ereignisse in Bosnien und in Tschetschenien betrachten.

Tschernobyl, das schreckliche Los der Kinder von Tschernobyl, die heute noch zum Leiden und zu frühem Tod verurteilt, geboren werden, lehrt eindeutig: Es gibt keine unantastbaren internen Angelegenheiten in keinem Land, besonders nicht in solchen, wo ABC-Waffen gelagert sind und AKW’s unentbehrlich scheinen. Es muss endlich das begriffen und erreicht werden, wovon ANDREJ SACHAROW träumte, was er vorlebte und wozu er seine Zeitgenossen aufforderte: Einheit von Wissenschaft, Politik und Moral.
Das ist kein Wunschtraum mehr. Die durch ERIKA SCHUCHARDT laut gewordenen Stimmen aus Tschernobyl beweisen, daß diese Einheit eine Conditio sine qua non ist, entscheidend dafür, daß unser Planet bewohnbar bleibt.

Marmagen, 14. März 1995 LEW KOPELEW