Rezensionen - Diesen Kuss der ganzen Welt

kick 2Prof. Dr. med. Hermes A. Kick, Institut für medizinische Ethik IEPG, Mannheim 2009 flagge deutschland 30x50

„... faszinierend ... die entscheidenden Krisenetappen Beethovens

Es ist faszinierend, in dem Band zunächst lebensgeschichtlich die entscheidenden Krisenetappen Beethovens nachzuvollziehenn ...

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... in Ludwig von Beethoven begegnet uns jetzt eine Persönlichkeit, die das Leiden um eines höheren Willens auf sich nahm, aber nicht nur auf sich nahm, sondern als Lösung, als sinnhafte Aufgabe und Seinsweise akzeptierte.

Wege aus der Krise haben etwas zu tun mit der Verarbeitung zugrundeliegender unversöhnlich erscheinender Widersprüche. Das Gewahrwerden dieser Widersprüche geschieht häufig plötzlich im Auftreten einer neuen Belastung, die als physische Krankheit oder psychische Kränkung hereinbricht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Persönlichkeitspsychologisch ist klar, dass mit dem Auftreten von Kräften und Konstellationen, die das bisherige Gleichgewicht elementar in Frage stellen, existentielle Grundfragen aufgeworfen sind, die nur durch Aktivierung besonderer Kräfte in eine neue Gestalt und neue lebensdienliche Balance übergeführt werden können: Dass eine solche besondere Situation, eine Grenzsituation (K. Jaspers) nämlich, die die Conditio humana, also die Bedingung des Menschseins und seine Grenzen, als Bedrohung durch Tod, Nicht-Sein und Sinnlosigkeit offenlegt, neben großen Risiken eben auch die Chance zu einer vertieften Neuordnung des Lebens zu gelangen, bietet, dieses zeigt das ungewöhnlich breit angelegte empirische Forschungswerk Erika Schuchardts. Die allseits bekannte Bestseller-Autorin hat in ihrem grundlegenden Werk "Warum gerade ich …? Leben lernen in Krisen", das 2006 in 12. Auflage erschienen ist, auf der Grundlage von mehreren tausend biografischen Analysen ein handhabbares Krisenbearbeitungs-Spiralmodell und Krisenmanagement-Komplementärmodell entwickelt. Es fügt sich inhaltlich zu unterschiedlich ausgerichteten Beratungskonzepten vom Bereich Management bis zur Psychotherapie, wenn immer das Thema "Krisenmanagement" tangiert ist.

Nun hat es die Autorin mit dem vorliegenden Band unternommen, dieses Konzept auf einen der ganz Großen der Menschheitsgeschichte anzuwenden: Ludwig von Beethoven. Sachkenntnis, das heißt historische Quellenkenntnis, emotionales Engagement und vor allem auch die weitreichenden Kontakte der Autorin zu Musikern, Künstlern und Musikwissenschaftlern, so dem renommierten Constantin Floros, dürften mit dazu beigetragen haben, dieses Anliegen so überzeugend ins Werk zu setzen. Dies ist das eine. Das andere ist, dass man das Bestreben der Autorin spürt, das Paradigma der Krise und Krisenbewältigung Ludwig van Beethovens nicht ins Monumentale zu erheben, sondern im Bereich unserer Lebensbegabung fruchtbar zu machen. Es ist faszinierend, in dem Band zunächst lebensgeschichtlich die entscheidenden Krisenetappen Beethovens nachzuvollziehen, beginnend mit der Diagnose einer progredienten Taubheit, die Beethoven völlig aus seiner ohnehin sehr empfindlichen Balance im persönlichen Bereich brachte. Doch schon im Heiligenstädter Testament (1802) wird deutlich, wie das Ergebnis der inneren Auseinandersetzung lautet: In Ludwig von Beethoven begegnet uns jetzt eine Persönlichkeit, die das Leiden um eines höheren Willens auf sich nahm, aber nicht nur auf sich nahm, sondern als Lösung, als sinnhafte Aufgabe und Seinsweise akzeptierte. "Nur sie, die Kunst, hielt mich am Leben." Gerade anhand ihres Spiralparadigmas versteht es Erika Schuchardt zu zeigen, dass es nicht darum gehen kann, an der Monumentalität Beethovens stehen zu bleiben: Vielmehr geht es um Verallgemeinerungsfähigkeit einer Authentizität des Leidens, aber nicht nur des Leidens als solchem, sondern inbezug auf ein gefundenes Sinnziel, das eine Neuordnung des Lebens bedeutet. Das Sich-Einlassen auf diesen Prozess der Neufindung ist immer ein kreatives Geschehen, weil nämlich die Lösung für die tiefe Krise nicht einfach vorgegeben, sondern zu schaffen ist. Bei Beethoven war es, so zeigt Erika Schuchardt, die Neunte Symphonie schließlich, die ein verallgemeinerungsfähiges Ergebnis der Krise greifbar werden ließ, das uns bis heute tief berührt, mehr noch, Ermutigung sein kann. Erika Schuchardt sieht in dem Paradigma durchaus einen weit über die Persönlichkeitsentwicklung hinausgehenden Anwendungsbereich im Rahmen des kollektiven Krisenmanagements, etwa zur Beförderung überlebensnotwendiger Friedensprozesse der Weltgesellschaft. Freilich bleibt, so ließe sich hinzufügen bei aller Systematik der Krisenbewältigung und des Krisenmanagements ein Element des Nicht-Verfügbaren. Hier bleibt das Angewiesensein auf die Hoffnung, dass uns jenes im rechten Moment zuteil wird, dann, wenn die Belastung jedes menschliche Maß überschreitet. Hier wäre gerade im Interesse der vielen nicht mit der Monumentalität Beethovens gesegneten Persönlichkeiten noch stärker zu betonen gewesen, wie wichtig es ist, in der Grenzsituation eine Entscheidung zu treffen zum Konstruktiven hin, als gleichzeitig entschiedene Verneinung des Destruktiven. Wie schwer diese Entscheidung fällt, wie notwendig sie ist in einer Zeit, die dazu neigt, Kränkungen, so leidvoll sie sind, zu instrumentalisieren, zeigen unter anderem auch biografische Äußerungen von Gewalttätern und Terroristen. Sie sind Extremvarianten einer Versuchung, sich Genugtuung zu verschaffen unter Inkaufnahme neuen Unrechts. Hier tauchen Fragen auf, inwieweit in den bestimmten mittleren Abschnitten des Spiralmodells Auseinandersetzung und Konfrontation als Weg zur Kreativität noch stärker betont werden müsste.

Der Band kann und darf gelesen werden als Ermutigung und Hoffnungszeichen, dass es möglich ist, Wege aus der Verzweiflung zu finden in schwieriger Zeit. Dies hat etwas zu tun mit Betroffenheit und mit ästhetischem Erfassen, dann mit wissenschaftlich-analytischem Denken und Auseinandersetzen und schließlich mit lebendigem Gestalten. Dann kann es gelingen, persönlich und politisch zu neuen lebensdienlichen Lösungen zu finden. Ein kreativer Leitfaden, diesen Weg zu finden und diesem Weg treu zu bleiben, darf in dem neuen Werk von Erika Schuchardt gesehen werden.

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Prof. Dr. med. Hermes A. Kick
Institut für medizinische Ethik IEPG (Mannheim)

Mannheim, April 2009