Rezensionen - Krisen-Management und Integration

wzm

Prof. Dr. Hans-Chr. Piper, Dir. des Zentrums ’Clinical Pastoral Training’ (CPT), Med. Hochschule Hannover (MHH)

In: Zeitschrift Wege zum Menschen, 1981

… Eine provozierende Arbeit – sowohl für die Gesellschaft (insbesondere ihre Pädagogik und Bildungsplanung) als auch für die Kirche (insbesondere ihre Seelsorge und Diakonie).- Wer wird sich herausfordern lassen?...

Rezension: Eine provozierende Arbeit

Diese Hannoversche Dissertation erschien gerade recht zum „Jahr der Behinderten“. Obgleich sie in erster Linie die Erwachsenenbildung, zumal in der Volkshochschule, im Auge hat und entsprechende Bildungsmodelle im III. Teil vorstellt, kann sie dennoch alle Aufmerksamkeit über den engeren Fachbereich hinaus für sich beanspruchen.

Die Verf., Pädagogin, hat wichtige Anstöße für ihre Arbeit aus der Klinischen Seelsorgeausbildung erhalten (I, 87). Hier empfing sie die Anregung, Biographien von unmittelbar und mittelbar Betroffenen daraufhin zu untersuchen, wie die Prozesse der „Krisenverarbeitung“ verlaufen und was fordernde bzw. blockierende Faktoren bei der Bewältigung des persönlichen Schicksals und der damit verbundenen sozialen Integration sind. In der Didaktik (Supervision) der Klinischen Seelsorgeausbildung empfing sie Impulse, das Problem der Interventionen bei Krisenverarbeitungen wissenschaftstheoretisch gründlich zu untersuchen, wobei sie sozialpädagogische, kommunikationstheoretische und sprachwissenschaftliche Gesichtspunkte für ihren eigenen Entwurf fruchtbar macht.

Der Mittelteil der Arbeit umfasst die Analyse von 60 Biographien. Dabei arbeitet die Verf. – im Anschluß und in Weiterführung der Untersuchungen von E. Kübler-Ross und Y. Spiegel – acht „Spiralphasen“ der Krisenverarbeitung heraus: 1. Ungewißheit, 2. Gewißheit, 3. Aggression, 4. Verhandeln, 5. Depression, 6. Annahme, 7. Aktivität, 8. Solidarität. Die ersten drei Phasen bilden das „Eingangsstadium“, für das eine „kognitiv-fremdgesteuerte Dimension“ kennzeichnend ist; die 3. bis 5. Phase gehört dem „Durchgangsstadium“ mit einer emotional ungesteuerten Dimension an, die drei letzten Phasen werden schließlich als „Zielstadium“ mit einer „aktional-selbstgesteuerten Dimension“ bezeichnet.

Dieser Teil mit seinen vielen, sorgfältig ausgesuchten und kommentierten Zitaten ist der bündigste Ertrag der Arbeit, konfrontiert mit Betroffenheit und lässt selber betroffen werden, zumal „ein gravierendes und unübersehbares Ergebnis der Biographienanalyse das Fehlen jeglicher Betreuung, Beratung oder gar Begleitung (ist), das von allen Biographen ausnahmslos als Mangel erlebt, dargestellt und als Defizit beklagt wurde“ (I, 97). Als wichtiges Ergebnis dieses Teils mag noch herausgestellt werden, dass ein Fehlen der Aggressionsphase eine Blockade des Verarbeitungsprozesses zur Folge hat und zur sozialen Isolation tendiert (II, 301ff.).

In Anlehnung an eine aus einem Memorandum des Weltkirchenrats stammenden Formulierung und in Aufnahme eines Vortrags von T. Brocher auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin 1977 findet die Verf. (die Synodale der Synode der EKD ist) die Grundthese ihres Buches: „Der Behinderte braucht die Gesellschaft, und die Gesellschaft braucht den Behinderten“; dies letzte, weil „der auf Leistung, Standard, Fortschritt programmierte Nichtbehinderte, der sich selbst in blindem Fortschrittsglauben der gesellschaftlichen … Aufgabe der Umstrukturierung entzieht … die Herausforderung des Behinderten (braucht), der demonstriert, was es heißt, ganz aus sich selbst zu leben, der die Maßstäbe inhumaner Lebensstandards auf Lebensqualität befragt“ (I, 17).

Eine provozierende Arbeit - sowohl für die Gesellschaft (insbesondere ihre Pädagogik und Bildungsplanung) als auch für die Kirche (insbesondere ihre Seelsorge und Diakonie). - Wer wird sich herausfordern lassen?