Rezensionen - Krisen-Management und Integration

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Dr. Karl Alfred Odin, Feuilleton-Leiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) (zwei Artikel), Frankfurt
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.12.1986, Nr. 286

Die Folgerung der Professorin heißt: Notwendig ist vor allem die Weiterbildung der Schul- und Erwachsenenpädagogen. Es müsse zu einer 'Integrations-Pädagogik/-Andragogik' (Anm.: sog. Krisen-Management) kommen … (FAZ Artikel II)

FAZ-Rezension: Bildung als Lebenshilfe (Artikel II)

Den Anfang bildet, wie die Biographien zeigen, stets die Leugnung der Krise. Die Verwandten, die Freunde sagen: "Das wird wieder besser.“ Immer wenn der Betroffene sich mit der Behinderung abzufinden scheint, wird er zu neuer Hoffnung aufgerüttelt und dadurch in Ungewißheit festgehalten. Auch wenn er mit der Zeit erkennt, daß das Leiden sich nicht gibt, bleibt das ein bloßes Verstandesargument. Das Gefühl nimmt die Unabänderlichkeit nicht auf. Die Professorin fand in den Biographien, daß es fast bei allen Betroffenen vier Jahre gedauert hat, ehe ihnen bewußt wurde, daß ihr Leiden unwiderruflich ist. Die Frage heißt dann; "Warum gerade ich…?" Sie entlädt sich in Aggressionen, darauf in einer weiteren Phase in neuen Hoffnungen. "Wenn ich das und das tue, zu einem bestimmten Arzt gehe, ein neues Medikament nehme, ein Gelübde erfülle, muß mir geholfen werden."

Da der Erfolg ausbleibt, sind die Folge Depressionen. Der Behinderte muss in diesem Zustand lernen, Abschied von Hoffnungen zu nehmen. Er muß dabei von anderen Menschen begleitet werden. Hier hilft Bildung, Er muß lernen, auf Wunschvorstellungen zu verzichten. Allein auf sich gestellt, kann der Behinderte das nicht zuwege bringen. Wenn ihn die Aggression, der Wunsch überfällt, ein Ende zu machen, fühlt er sich schuldig. Zwei Drittel der untersuchten Biographien berichten über Selbstmordversuche in diesem Stadium. Erst wenn er das durchgekämpft hat, findet der Betroffene die Kraft zu selbständigem freiem Handeln. Er erlebt eine neue Phase, in der er nicht mehr dem nachsinnt, was er verloren hat, sondern fragt, was er mit dem anfangen kann, was noch da ist Das heißt nicht, so zeigen die Biographien, daß er seiner Behinderung zustimmt. Aber er stemmt die Kräfte nicht mehr gegen das Verhängnis, sondern ist fähig geworden, mit ihm zu leben.

Daraus entsteht neue Aktivität. Der Behinderte will auf dieser Stufe wieder tun, was er selber kann. Er will handeln, für sich und zusammen mit anderen Behinderten in Selbsthilfegruppen. Er gewinnt Interesse daran, sich zurechtzufinden, sich weiterzubilden. Er wird auch fähig, diese Bildung anderen weiterzugeben, und er regt Bildungsbestrebungen an. Es folgt als letztes die Phase, in der er nicht mehr nur etwas für sich und die eigene Gruppe tun will, sondern verantwortlich für alle eintritt, gleichermaßen für Behinderte und Nichtbehinderte. Er hat damit die höchste Stufe in dem Prozeß erreicht, der mit der Behinderung und der Reaktion der anderen auf sie beginnt und in vielen Stufen dahin führt, daß das Leiden frei getragen werden kann. Frau Professor Schuchardt hat diesen Prozeß als Stufenturm von acht unterschiedlichen Phasen ins einzelne gehend wissenschaftlich beschrieben.

Sie fand in den Biographien, daß nur ein Drittel der Behinderten das Ziel erreicht, den Halt auch im Leiden wiederzugewinnen. Der Grund ist, daß die anderen Menschen ohne böse Absicht den notwendigen Lernprozeß vereiteln. Sie bleiben auf Distanz zum Behinderten, nehmen ihn mit seinem Leiden nicht unbefangen auf, stellen sich nicht der Krise. Sie bleiben gefangen in der naturgegebenen Angst vor der Behinderung. Es kommt nicht zum wechselseitigen Lernen zwischen Behinderten und Nichtbehinderten.

Eine Gelegenheit, wo das geschehen könnte, bietet die Erwachsenenbildung. Im Grußwort an das Kolloquium in Bonn forderte die Bundesministerin für Bildung und Wissenschaft, Frau Wilms, die Träger und Dozenten der Einrichtungen zur Weiterbildung auf, mehr als bisher ihre Veranstaltungen den Behinderten zu öffnen. In Schule und Berufsausbildung seien in den vergangenen Jahren Fortschritte erzielt worden.

Aber die Erwachsenenbildung erreicht nach Schätzung der Professorin nur fünf Prozent der Behinderten. Die Bildungsarbeit kann den Dienst leisten, den nötigen Lernprozeß bei Behinderten und Nichtbehinderten in Gang zu setzen. Weiterbildung schafft eine der Voraussetzungen für die Integration der Behinderten Aber, sagt Frau Schuchardt, erst seit der Bildungseuphorie um 1970 gebe es Angebote der Weiterbildung für die Betroffenen. Das Internationale Jahr des Behinderten 1981 hat noch einmal einen Höhepunkt gebracht. Aber seitdem geht diese Arbeit nach dem Urteil der Professorin wieder zurück, trotz der Erklärung des Jahrzehnts von 1981 bis 1991 zur Internationalen Dekade der Behinderten.
Die Folgerung der Professorin heißt:
Notwendig ist vor allem die Weiterbildung der Schul- und Erwachsenenpädagogen. Es müsse zu einer 'Integrations-Pädagogik/-Andragogik' (Anm.:sog. Krisen-Management) kommen, die Behinderten und Nichtbehinderten hilft, mit der Behinderung zu leben. Das ist für beide Gruppen nicht eine Frage der Intelligenz. Der Bildungsprozeß, den das Leiden den Betroffenen auferlegt, betrifft nicht den Verstand, sondern das Lernen zu leiden. Es ist die Schule des Leidens als des Lebens der Behinderten. Diese Schule hilft zugleich auch denen, die nicht behindert sind. Frau Schuchardt: "Wir müssen Leiden als Grundbestand des Lebens lernen.“