Kultur

Festbrief 1998

New-York in Braunschweig?

Unterwegs zur Kunst im Marienstift

 

Braunschweigs Blaues Band

Zu Ihrem Festtag grüße ich Sie herzlich und wünsche Ihnen Glück und Segen für die kommende Zeit, Freude und Anerkennung für Ihr Wirken, Gesundheit und Wohlbefinden in Ihrem Lebenskreis.

Ich habe mir überlegt, wie ich Sie erfreuen könnte. Darum wage ich den Versuch:
Ich möchte Sie einladen, sich selbst ein wenig Muße zu gönnen. Suchen Sie sich einen Platz, wo Sie sich wohl fühlen und erfreuen Sie sich dann beim Anschauen und Lesen an der

"Kunst im Braunschweiger Marienstift".

Schauen Sie sich das Altarbild von ADI HOLZER einmal genauer an, und wenn Sie mögen, ergänzen Sie lhre eigenen Gedankengänge um meine

"Gedanken zur Altarwand oder New York in Braunschweig",

Vielleicht verführt Sie das zu einem Spaziergang in unser Marienstift, und Sie haben Freude an einem der Braunschweiger Kunstschätze, möglicherweise auch an einer weiteren Stunde Muße und Einkehr.
In Verbundenheit

Ihre Erika Schuchardt

Ihre Braunschweiger Bundestagsabgeordnete

 


 Gedanken zur Altarwand

New York in Braunschweig? New Yorker Freiheitsstatue in Braunschweiger Kirche? New Yorker HippieFreiheitsstatue im Braunschweiger Marienstift? Eigentlich hatte ich alles erwartet, aber das nun doch nicht: New York in Braunschweig! Mehr noch: Die New Yorker Freiheitsstatue, diesen Sieg verkündenden ausgestreckten Arm oder gar diese Hippiemädchen-Freiheitsstatue auf unserer Altarraumwand - so groß wie im Breitwandkino - und kein wirkliches Altarbild!

Mir fielen Rainer Kunzes Worte ein: "Ein Dach, ein Haus und muß nicht beten", so charakterisiert er das ,Pfarrhaus".
Analog dazu denke ich jetzt: ,Amerika, eine schöne neue Welt und muß nicht beten?!"
So abgelenkt abwesend höre ich wie von weit her Orgelklänge - werde ich eingestimmt auf das, was mir nur allzu
vertraut ist: Gottesdienst - Liturgie - Talare!

Wo bin ich, wer bin ich, was geschieht hier mit mir? Aggression? Dem Wortsinn entsprechend heißt ,aggredi" auf etvvas gerichtet sein, zugewandt sein, so wende ich mich also dem Altarbild zu bzw. dem Breitwandkino, es beansprucht ja meine totale ungeteilte Aufmerksamkeit, denn es ist genau vor mir im Blickwinkel - es gibt sonst keine freie Wand zur "Andacht", es sei denn, die Augen zu schließen, was mich möglicherweise als Schlafende kategorisieren würde, die ich ja gar nicht bin.

Da geschieht es plötzlich, vom Vor-Urteil abrückend gleiten meine Augen suchend über die Breitwand des Kirchenraumes - schlagartig durchzuckt mich eine Erkenntnis: Kann das denn wahr sein, darf das überhaupt sein: Die Freiheitsstatue wird plötzlich zu einem Engel mit Flügeln. Aber unglaublich realistisch wie im wirklichen Erdenleben - also wie bei dir und mir - ist er - der Engel bzvv. die Freiheitsstatue - total erschrocken wie unvorbereitet mitten in seiner Siegerpose schlagartig vom Blitz getroffen: Leuchtendrot wie ein Flammenschwert durchzuckt der Blitzschlag sein freiheitliches Leben; durchtrennt er den Engelsflügel; der RiB der Schöpfung geht durch ihn hindurch: Er ist nicht länger siegreiche Freiheitsstatue in New York, er wird zum Engel mit dem gebrochenen Flügel. Und seltsam - plötzlich bin ich neben diesem hilflosen suchenden Engel, bin Teil des Altarbildes, Gemeinde um mich herum und Altarbild verweben zum allzu alltäglichen lebendigen Leben: Hundertmal oder sieben mal siebzigmal haben wir schon die Botschaft gehôrt, die doch so schwer zu glauben ist: Bei Hiob: ,Der Riß der Schöpfung geht durch mich hindurch". Bei Jesus im Garten Gethsemaneh, Abba, lieber Vater, warum hast Du mich verlassen! Auch bei dir und mir: ,Herr, wenn Du kannst, laß diesen bitteren Kelch an mir vorübergehen". Aber der Kelch geht eben nicht an mir und dir vorüber, aber das kaum Glaubhafte, das Einzigartige und Wunderbare geschieht: Gott offenbart sich uns eben in diesem Riß im Garten Gethsemaneh, im bitteren Kelch, im Kreuz, wenn wir uns stellen wenn wir bereit sind "un"bedingt alles ganz auf uns zu nehmen.

So offenbart sich plötzlich für mich sichtbar Gott im gebrochenen Engelsflügel unserer New Yorker Freiheitsstatue oder unseres Hippiemädchens hier in unserer Kirche unseres Braunschweiger Marienstiftes: Wie kostbaren Perlen vergleichbar fallen die Blutstropfen des gebrochenen Flügels herunter und werden aufgefangen als Quelle für neues gewandeltes Leben: Für Licht aus der Finsternis für neue Schöpfung. Das Geheimnis der Wandlung, der Auferstehung vvird erahnend jederman sichtbar. Mitten darin schreibt der Maler Adi Holzer die Worte: FÜRCHTE DICH NICHT". Hier sammeln sich die Tropfen des gebrochenen Flügels - Blut bzw. Perlen - zur Quelle feuerrot, aus der der Lichtengel, die New Yorker Freiheitsstatue, aufsteigt und siegreich die Botschaft verkündet: "GOTT IST LIEBE", genau am anderen Ende der quer über das Altarbild gespannten Diagonale in großen goldenen Lettern. Und fast atemlos erkenne ich erst jetzt als Entsprechung dazu auf der gegenüberliegenden Bildseite den strahlend goldenen Blitz, ich begreife die Aussage des Malers Adi Holzer: Der Riß der Schöpfung, der durch mich hindurchgeht, ist letztlich auch golden! Und vvie von weit her höre ich die Worte des ertaubten Ludwig van Beethoven: "Die Kreuze im Leben sind wie die Kreuze in der Musik: Sie erhöhen." Plötzlich umflutet mich selbst nach diesem Weg durch das Dunkel alles ausweglosen Suchens das Licht, die Wärme, die Freude, ja, die Zuversicht: GOTT IST LIEBE!
Noch einmal neu habe ich es hier im Marienstift begriffen: Es gibt keinen Weg am Leid vorbei, wohl aber einen hindurch. Auch der Glaubende weiß keinen Weg am Leid vorbei, wohl aber einen gemeinsam mit Christus beschrittenen Weg hindurch, dessen dürfen wir gewiß sein. Dunkelheit ist ja nicht Abwesenheit Gottes, vielmehr verborgene Gegenwart, in der wir ihn - geduldig nachfolgend - suchen und von neuem finden. Die New Yorker Hippiemädchen-Freiheitsstatue mit dem gebrochenen Flügel konnte zur Lichtgestalt - zum Engel - gewandelt werden. Wir denken an die Worte Manfred Hausmanns:

,,Wer des Lichts begehrt, muß durchs Dunkel gehen, was das Grauen mehrt, läßt das Heil erstehen, wo kein Sinn mehr ist, waltet erst ein Sinn, wo kein Weg mehr ist, ist des Wegs Beginn".
Ich erkenne: Der Weg ist das Ziel! Ich begreife: Der gebrochene Flügel wirkt das Heil!

Mitten in diesem Gedanken entdecke ich jetzt erst den Regenbogen - auch er ist gebrochen, auch durch ihn geht der Riß der Schöpfung - und dennoch schmückt er wie eine Schärpe das Gewand des Engels der Freiheitsstatue, des Hippiemädchens, der Lichtgestalt und symbolisiert noch einmal neu als Regenbogen die Brücke zwischen Gott und Menschen. Plötzlich freue ich mich über dieses Breitvvandkino als Altarbild im Braunschweiger Marienstift: Wie gut, daß der Künstler Adi Holzer den Mut hatte, seine Botschaft durch den ,Engel mit dem gebrochenen Flügel" zu sagen, vveil er vvie du und ich einen gebrochenen Flügel hat und "ja" zu seinem Schicksal sagte, weil er weiß: Gott ist Liebe, Gott ist bei mir. Ich fürchte mich nicht!

 

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